Mein Weg zur SOWI-Therapie

 

Hallo, ich bin Rudi – wer sind Sie?

Das sind die ersten Worte, die ein freundlich lächelnder Rollstuhlfahrer an mich richtet, während ich im Empfangsbereich einer Pflegeeinrichtung auf mein Vorstellungsgespräch warte. Von einer Freundin habe ich erfahren, dass hier jemand zur Betreuung der im Haus lebenden MS-Patienten gesucht wird. "Ich heiße Angela und bewerbe mich als Sozialpädagogin!" antworte ich Rudi freudig überrascht.
Rudi lerne ich schon eine Woche später in der gleich von mir gegründeten Gesprächsgruppe etwas näher kennen. "Kümmern Sie sich irgendwie um unsere MS-Patienten im Hause!", meint der Geschäftsführer. "Egal ob Gruppenangebote oder Einzelberatung. Was immer Sie fachlich für angemessen erachten. Ob Sie Ihre Zusatzausbildung als Familientherapeutin brauchen, werden Sie dann schon sehen. Dass diese Arbeit nicht leicht sein wird, das wissen Sie ja sicher! Eine fachliche Anbindung haben Sie hier nicht. Wenn Sie sich das zutrauen, haben Sie den Job!"
Ich traute es mir zu.

 

Das war im Januar 1992.
Seither arbeite ich freiberuflich einen Tag pro Woche in dieser Pflegeinrichtung. Das Haus leistet sich mein Betreuungsangebot ganz speziell für die vielen, teils noch jungen (ab dem ca. 35. Lebensjahr), aber schon schwer von Multipler Sklerose betroffenen Menschen, die hier leben. Die Gesprächsgruppe und die Möglichkeit von Einzelberatungen werden von den MS-Betroffenen des Hauses gut angenommen. Es sind ausnahmslos Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer. Nur manche können ihren Rolli noch selbst fahren. Manche kämpfen mit erheblichen Beeinträchtigungen der Sprach- und Sehfähigkeit, Konzentrationsprobleme und Müdigkeit fallen auf, mehr als kognitive Einschränkungen. Die teilweise erkennbaren seelischen Belastungen führe ich auf die Lebensumstände zurück. Niedergeschlagenheit, Frust, Gefühle von Sinnlosigkeit, apathischer Rückzug, teils auch anklagend aggressive Wortwahl scheinen mir logisch im Angesicht dieses Schicksals. Kaum einer hat Erfahrung mit meinem gesprächstherapeutischen Ansinnen. So mancher kommt einfach nur, weil das allemal noch besser ist, als einfach nur im Zimmer sitzen.

 

Diese Umstände werden für mich beim Aufbau der Gruppe zu einer großen Herausforderung. Manche Teilnehmer können wegen der Sprachprobleme "nur" zuhören, ein "JA" oder "Nein" signalisieren – aber dieses Dabei sein ist vielen sehr viel wert. Immer wieder stellt sich die schwierige Frage, welche Aufnahmekriterien ich zur Teilnahme am Gesprächskreis entwickeln soll. Ich spüre - die Gruppe verkraftet nur eine bestimmte Anzahl stummer Zuhörer und noch weniger Leute mit kognitiven Beeinträchtigungen. Recht rasch entwickelt sich ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Bereitschaft sich auf persönliche Anliegen einzulassen, Gefühle anzusprechen, eigene Befindlichkeiten, Betroffenheiten offen auszudrücken wächst ganz langsam.

 

Ich versuche Kontakt zu den Pflegestationen und Kolleginnen der Beschäftigungstherapie zu halten. Selten bis fast nie sind Angehörigengespräche möglich. Die Bewohner gelten aus medizinischer Sicht als "austherapiert". Diese Festschreibung stört mich intuitiv von Anfang an.

 

Mit meinem fachlichen Latein bin ich trotz meiner damals 10jährigen Beruferfahrung als Sozialpädagogin mit familientherapeutischer Zusatzausbildung (1986-91) bald am Ende. Ich brauche lange, bis ich ein für mich gesundes Nähe-Distanz-Verhältnis zur Gruppe finde und ich die Lähmungen nicht mehr mit nach Hause nehme - in meinem Herzen und in meinem Körper. Es dauert, bis mir klar wird, wie sehr ich meine Anteilnahme über all zu große Nähe ausdrücken will. Ich arbeite mit schwer kranken Menschen meiner Altersgruppe – teils sogar jünger – das geht unter die Haut. Ich "befreie" mich aus dieser Lähmung, indem ich – nach langem Zögern - meine psychische und körperliche Betroffenheit in der Gruppe thematisiere. Von den Gruppenteilnehmern erhalte ich postwendend die "Anweisung und Erlaubnis", gesund bzw. auf "notwendiger Distanz" zu bleiben, um so lange als möglich "nahe" bei der Gruppe sein zu können. Ich merke wieder einmal: "Wir verstehen uns!".

 

Von den Gruppenteilnehmern lerne ich natürlich viel über Multiple Sklerose; was es bedeutet, mit 30 oder 40 Jahren im Pflegeheim zu leben und von der Familie getrennt, manchmal auch verlassen zu werden. Ich begreife, warum die beiden großen Tabus "Familie" und "Zukunft" heißen, denn nichts impliziert mehr Trauer und Schmerz.

 

Irgendwann wage ich zaghaft zweifelnd den ersten Schritt mit bewegten Phantasiereisen zu arbeiten. Die Reaktionen sind unerwartet und unglaublich – Freudentränen, bewegte Gesichter, "mein Gott, das ich noch einmal in die Berge komme!" Ich selbst bin ganz bewegt von diesem unerwartetem "Erfolg" – es hätte ja so mancher empört sein können, dass ich so schmerzliche Erinnerungen wecke. Ich lerne, wie wohltuend bewegte Bilder für gelähmte Menschen sind und wie sehr unsere Gespräche an Tiefe gewinnen.

 

1998 bietet die DMSG ein erstes SOWI-Seminar mit Sonja Wierk im Pflegeheim an.
Die 73-jährige freundliche Dame hält stehend, hüpfend, tanzend, unermüdlich, selbstbewusst und liebenswert ein Tagesseminar. Sie berichtet, wie sie, als schwer von MS betroffene, einen Weg aus völliger Lähmung zurück zur vollständigen Beweglichkeit fand. Diese Selbsttherapie nennt sie später SOWI-Therapie.
Unter den Zuhörern herrscht Fassungslosigkeit – wir können es nicht fassen, dass die von ihr mitgebrachten alten Photos, eine bettlägerige, schwerst von MS gezeichnete Frau zeigen, die Frau ist, die da lächelnd und vital vor uns steht.

 

Mein Kopf und meine Intuition sagen mir sehr schnell: "Das ist es!". Diese Frau beantwortet mir Fragen, die ich noch gar nicht auszuformulieren in der Lage war. Sie bestätigt mit ihrem eigenen Lebensbericht all die Erfahrungen, die ich zur psychischen Befindlichkeit dieser schwer von MS betroffenen Menschen in den letzten Jahren gesammelt hatte. Und – sie bestätigt meine Idee mit inneren Bildern zu arbeiten, Bewegungen in der Vorstellung zuzulassen, sich den schmerzlichen Erinnerungen zu stellen. Doch sie erklärt zu unser aller Erstaunen, dass dies nicht nur wichtig für die Seele sei, sondern vor allem wichtig für das Gehirn und den Körper, wenn man verlorene Funktionen (Beweglichkeit) wieder aktivieren wolle.

 

Wir Zuhörer fragen uns, ob wir richtig hören? Beweglichkeit wieder erlangen … nach Jahren im Rollstuhl?
Dies war gewiss bislang nicht mein therapeutisches Bestreben! Mein Spezialgebiet ist die Psyche – nicht der Körper. Außerdem - wer wagt es schon gegen alle ärztlichen Prognosen anzugehen?

 

Jetzt zeigt mir diese Frau, wie man die durch die Vorstellungskraft gesetzten Bewegungsimpulse aufgreifen und langsam hin zu konkretem TUN lenken kann. Die Grenze überschreiten - von der Vorstellung zur Realität! Sie zeigt uns viele andere Dinge, von denen ich noch weit entfernt bin, sie zu verstehen.
Ich frage sie, ob sie eine medizinische oder psychologische Ausbildung hat – nein. Sie ist Mutter von vier Kindern, 30 Jahre MS, Rollstuhl, Bettlägerigkeit – aus eigener Betroffenheit einen Weg zurück zum Körper gefunden; entdeckt, dass das nur über liebende Akzeptanz, über Aussöhnung mit sich selbst und seinem Schicksal geht; gelernt die Sprache des Körpers zu verstehen und begriffen, dass Kommunikation mit ihm möglich ist.

 

"Gedankenkraft gibt Nervenkraft – Nervenkraft gibt Muskelkraft!" und
"Deine Selbstbestimmung ist deine Kraft!"
Diese Sätze wirklich zu erfassen wird mich die nächsten Jahre in Anspruch nehmen.

 

Die Rückmeldungen der damaligen Seminarteilnehmer: "Ich weiß nicht, ob ich noch die Kraft habe diesen Weg zu gehen, aber wenn es einen Weg gibt, dann ist es dieser!" oder: "Angela, hast du jetzt begriffen, was ich dir schon immer erklären wollte – so kommt man zurück zur Bewegung, nur ich kann es nicht annähernd so perfekt, wie diese Frau!" oder: "Eines ist klar, die Frau weiß wovon sie spricht – so kann nur ein Betroffener berichten!" ….

 

Viele der Teilnehmer sind nach dem Seminar tief bewegt und bedanken sich für diese Augenblicke der Hoffnung und des Staunens, des mitfühlenden "Verstandenseins" bei Sonja. Die anwesenden "Professionellen" (Physiotherapeuten und Beschäftigungstherapeuten) üben sich eher in kühler Distanz. Ein Physiotherapeut greift Sonja an, weil sie es wagt Hoffnung zu setzen. "Hoffnung bei MS - das gibt es nicht!" "Was verloren ist, das ist verloren!". Die Gruppenteilnehmer entschuldigen sich später an seiner statt, für dieses rüpelhafte Verhalten:
"Wie kann er es wagen uns das einzige zu nehmen, was wir noch haben – die Hoffnung!"

 

Nach diesem ersten Seminar fühle ich mich aufgewühlt und unsicher – es kann einfach nicht sein! Gleichzeitig weiß ich, dass ich mich diesem Thema stellen muss. Habe ich Angst davor, auch so unflätig beschimpft zu werden? Renne ich einem Hirngespinst hinterher? Leide ich an heftigem Helfersyndrom? Und vor allem - ich habe nicht die geringste Ahnung, wie ich mich so einem "Wunder" nähern kann.
Der Weg öffnet sich von selbst. Ich lese Oliver Sachs "Der Tag an dem mein Bein fort ging!" und kann nicht fassen, welch wunderbare Ähnlichkeiten ich entdecke. Ich schicke Sonja ein Exemplar und sie bestätigt mir, dass das alles ganz nahe verwandt sei mit der SOWI-Therapie und sie dem "guten Mann" (ein Neurologe) noch viel erklären könne. Ich glaube ihr aufs Wort! Dennoch entschließe ich mich nach anderen "Bestätigungen" für Sonjas Verfahren zu suchen – möglichst naturwissenschaftlich – schließlich bin ich ein ordentliches Mitglied unseres abendländischen Kulturkreises und fühle mich dem Weg der "Beweisbarkeit" verpflichtet. Ich beginne mich durch einen Berg von Literatur zu wühlen – Achtsamkeitsmeditation, Salutogenese, Neurologie, Psychoneuroimmunologie, Gehirnforschung, … . Unter anderem lande ich bei der Huna-Philosophie der Schamanen und kann selbst nicht fassen, dass ich "toll" finde, was ich da lese. Ich belege erste Einführungsseminare in Hypnosetherapie und bin völlig fassungslos, als ich 2004 auf der Jahrestagung der Milton Erickson Gesellschaft erfahre und erkenne, dass es für viele Kollegen aus dem Bereich der Psychologie, Psychotherapie und sogar der Schulmedizin längst selbstverständlich ist, Heilungsprozesse mit Hilfe der Imagination zu unterstützen und anzuerkennen, dass es diese "Wunder" gibt, die wir einfach noch nicht erklären können.

 

Immer mehr gestatte ich mir, diese Grenze zwischen der Arbeit mit der Seele, hin zur Arbeit mit Seele und Körper, zu überschreiten. Damit vollzieht sich in der Praxis das, was im Kopf schon vorher klar war – das unmittelbare Zusammenwirken von Körper, Geist und Seele. Mich ermutigt das Wissen, dass es Tausende von Fachkollegen gibt, für die es klar ist, dass es ein "das gibt’s ja gar nicht" nicht gibt. Für diese Leute ist Sonja nur ein Beispiel von vielen, wozu Menschen in der Lage sind, wenn sie den Zugang zu sich selbst, zu ihrem Körper und zu ihrem Unbewussten finden.

 

Seit 2004 biete ich, nach Ermunterung durch Sonja Wierk, in freier Praxis SOWI-Seminare an.
Seit 2009 ergänze ich die SOWI-Therapie durch hypnosegestütztes Mentaltraining.

 

Die Arbeit im Pflegeheim wird auf Wunsch der Teilnehmer immer mehr auch zur Arbeit mit der SOWI-Therapie. Die lebensbejahende Botschaft gibt der Gruppe Kraft und setzt immer wieder starke positive Impulse. Die Gruppe wird immer selbstbewusster. 2008 mündet diese Power in den wohl noch nie da gewesenen Versuch, einen Bericht über das Leben im Pflegeheim zu schreiben. Die Gruppe nennt ihn etwas provokativ: "Pflegeheim! Na und!". Und das in einer Zeit, in der die UN-Behindertenrechtskonvention im März 2009 in Deutschland verbindlich wird und mancher uns daran erinnert, dass unser Bericht nicht eben jenem Zeitgeist entspräche. Ach so? – Gilt der beschworene Paradigmenwechsel "weg vom defizitorientierten, hin zum potenzialorientierten Ansatz" nur für Behinderte, die in der ambulanten Versorgung leben?

 

Im Sommer 2009 senden wir den Bericht u. a. an die MS-Gesellschaft, die uns eine engagierte Journalistin schickt. Im November 2010 wird ihr Artikel in der Mitgliederzeitschrift "Kontakt", der DMSG, Landesverband Bayern, erscheinen.

Die MS-Gruppe im Pflegeheim besteht natürlich fort – was sonst!